Welt online 17. November 2009
Von Miriam Hollstein 25. Oktober 2009, 16:31 Uhr
Die neue Regierung sollte wegen der Überschuldung keine Versprechungen machen, sondern mehr von den Bürgern fordern. Das gilt vor allem für Zuwanderer, findet der Historiker und Politikexperte Arnulf Baring. Die umstrittenen Äußerungen von Ex-Finanzsenator Sarrazin treffen für ihn den Nagel auf den Kopf.
Der Historiker und Politikexperte Arnulf Baring verteidigt Thilo Sarrazin
WELT ONLINE: Was erwarten Sie von der neuen Regierung?
Arnulf Baring: Ich finde es schwer, etwas über diese Regierung zu sagen, denn noch ist sie ja nicht sehr präzise. Im Grunde steht sie vor einer nahezu auswegslosen Lage. Wir haben eine wahnsinnige Überschuldung, was die Handlungsfähigkeit der Politik enorm einschränkt. Andererseits müssen bei der Bildung mehr Anstrengungen unternommen werden, auch um die enormen Defizite auszugleichen, die es unter Teilen der Zuwanderer gibt.
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WELT ONLINE: Im Vergleich zu früheren Regierungen ist diese eher ruhig gestartet, ohne den Anspruch eines großen Gesellschaftsprojektes gestartet. Kann das ein Vorteil sein?
Baring: Für Projekte, welcher Art auch immer, ist doch momentan gar kein Geld da. Deshalb muss sich die Regierung auf die Prioritäten konzentrieren. Sie müsste jetzt nicht Verheißungen, sondern Zumutungen unter das Volk bringen. Doch sie tut es aus Angst vor den Wählern nicht. Was Thilo Sarrazin gesagt hat, ist auf weite Strecken die beste Analyse, die ich seit langem gelesen habe.
WELT ONLINE: Auch in der Wortwahl?
Baring: Wenn er es nicht zugespitzt hätte, wäre sein langer, nachdenklicher Text gar nicht diskutiert worden.
WELT ONLINE: Bräuchten wir mehr Sarrazins in der Politik?
Baring: Natürlich. Es müsste mit einer ganz anderen Entschiedenheit gedacht, geredet und gehandelt werden.
WELT ONLINE: Wie muss sich die SPD in der Opposition aufstellen?
Baring: Ich glaube nicht, dass die SPD dem Untergang geweiht ist. Im Gegenteil: Ich bin überzeugt, dass die SPD die zentrale Partei der neuen Bundesrepublik ist. Die zentrale Partei der alten Bundesrepublik war die CDU.
WELT ONLINE: Das ist eine kühne Aussage.
Baring: Nein. Sie müssen die SPD ja immer zusammen mit der Linken zählen. Das Land ist durch die Wiedervereinigung eindeutig nach links gerückt. Die Union ist doch nur noch ein Schatten dessen, was sie in der Adenauer-Ära einmal war. Aber wenn die SPD jetzt den Fehler begeht, nach links zu rücken, wird ihr Debakel noch größer werden. Denn Wahlen werden bei uns in der Mitte entschieden, und dort muss die SPD bleiben. Die Linke muss sich an die SPD annähern, nicht umgekehrt.
WELT ONLINE: Welche Rolle werden die Grünen spielen?
Baring: Wenn die Grünen Verstand haben, werden sie die Rolle der alten FDP einnehmen. Sie werden sich so positionieren, dass sie einerseits mit Rot-rot koalieren können, andererseits aber auch mit Schwarz-gelb. Das will zwar die Grünen-Führung nicht, aber die Wählerschaft ist viel bürgerlicher. Wie das ausgeht, wird hoch interessant werden.